Architektur
Die Architektur der St. Georgskirche
Die St. Georgskirche ist gotisch geblieben trotz aller Rekonstruktionen nach Kriegen und Feuersbrünsten. Dieses Heiligtum der Spätgotik ist eines der fünf zwischen 1495 und 1510 errichteten Baudenkmäler, die zum Nationalerbe originaler litauischer Architektur gehören. Im Urteil der Kunsthistoriker D. Kaczmarzyk und Vladas Drėma sind die architektonischen Bezüge zwischen der St. Anna Kirche und der Bernardinerkirche in Vilnius und der St. Georgskirche in Kaunas so klar und offensichtlich im künstlerischen Ausdruck und in den identischen Motiven, dass wir behaupten können, derselbe Meister habe alle drei Kirchen entworfen, nämlich der Vilniusser Kirchenarchitekt Michael Enkinger 1. Berühmt geworden durch die Originalität seiner Werke, von seinen Zeitgenossen hoch geschätzt, bezaubert uns dieser Meister bis heute mit seinen Sakralbauten.
Die Bernardinerkirche von Kaunas ist ein monumentaler, langgestreckter Bau (Länge der Halle 36.5 m, Länge des Presbyteriums 20.8 m), beeindruckend durch seine vertikalen Proportionen und die rhythmischen Kompositionen. Seine Fassade ist aufgelöst durch Spitzbogenfenster und anmutig schlanke, fein gegliederte Strebepfeiler, die identisch sind mit jenen der Bernardinerkirche in Vilnius: sie verjüngen sich nach oben in vier Segmenten, von denen jedes denselben Querschnitt aufweist.
Ganz besonders eigentümlich sind die Strebepfeiler des Presbyteriums, eine Art Säulen, welche die Mauer gar nicht berühren; sie stützen denn auch nicht die Mauer, sondern die Bogen über den Fenstern und das Dachgesims. Beim Presbyterium sind die Fenster nicht gleich eingefasst wie an der übrigen Fassade; die Einfassungen sind hochgezogen aus Ziegelsteinen von unterschiedlichem Profil. Auf der Ostseite wird das Presbyterium abgeschlossen von einer dreiwandigen Apsis. In der Mitte der Westfassade war der Haupteingang – ein schmuckes Spitzbogenportal, eingefasst von profiliertem Rahmenwerk. Diese Fassade krönt ein verputzter dreieckiger Giebel, der gegliedert ist durch rechtwinklige Nischen. Höchstwahrscheinlich wurde er aufgemauert nach dem Brand von 1668, denn auf einem Stich von Tomas Makovski vom Anfang des 17. Jahrhunderts, der das Panorama von Kaunas zeigt, hat die Fassade einen Treppengiebel. Im bildhaften Bericht über diesen Brand heisst es, „Weil es ein Strohdach war, hat das Feuer alles vernichtet.“ Doch nachdem man schnelle Hilfe erfahren durfte, wird dort auch bezeugt: „Das Heiligtum wurde von oben überdeckt, auch der Dachfirst und der Turm.“ Auf einer Seite dieses Dokumentes findet sich die Ansicht eines barocken Türmchens, sorgfältig mit der Kielfeder gezeichnet und koloriert mit verdünnter Tusche und gelblicher Wasserfarbe. Das heutige Dachtürmchen über dem Presbyterium (Chor) gleicht jenem auf der Zeichnung, ist aber nicht dasselbe. Gab es vielleicht einmal ein zweites Türmchen auf dem Kirchendach?
Gewölberippen über den Kapitellen, geschmückt mit Rautenzweigen. Photo A. Švedas
Die St. Georgskirche ist eine Hallenkirche; alle drei Schiffe liegen unter ein und demselben Satteldach, getrennt davon ist nur das deutlich niedrigere Presbyterium, über dem sich das bildschöne barocke Türmchen erhebt. Der ganze Bau ist gemauert aus dunkelroten Ziegelsteinen, die verlegt sind nach gotischer Art (abwechselnd der Länge und der Breite nach); als massvolle Dekoration werden nachgebrannte Ziegel von schwarzer Farbe verwendet; die daraus gestalteten Ornamente sind meist Rhomben und Kreuze. Die Wände sind sehr dick, im Kirchenschiff 1.3 m, im Presbyterium 1 m.
Der Innenraum der Kirche wird durch vier Pfeilerpaare in drei Schiffe aufgeteilt, welche aus je fünf Jochen bestehen, die überfangen sind von halbrunden Kreuzgewölben. Die hohen Pfeiler von quadratischem Querschnitt wurden sehr wahrscheinlich hochgemauert nach dem Brand von 1624. Damals wurden auch die heutigen Gewölbe errichtet, die etwas niedriger sind als die alten; ausserdem wurden die Wände und Pfeiler der Seitenschiffe dekoriert mit breiten Pilastern (ihre Kapitelle sind geschmückt mit Rautenzweigen). Die Seitenschiffe sind schmaler als das Mittelschiff, dessen Weite jener des deutlich niedrigeren Presbyteriums entspricht. Der Triumphbogen, welcher das für den Chor der Brüder bestimmte Presbyterium vom übrigen Innenraum trennt, ist ein wichtiger Faktor für die räumliche Struktur des Heiligtums.
Die St. Georgskirche, eines von Litauens herrlichsten Baudenkmälern der Spätgotik, ist bis heute (2006) nicht restauriert. Das erhalten gebliebene Gesamtbild der Kirche wird entstellt von zugemauerten Fenstern und später hinzugekommenen Elementen verschiedener Herkunft, wie z.B. dem unpassenden Nordportal. Von Westen, wo sich Vorbauten anlehnen, ist die Kirche eingezäunt mit hässlichem Maschendraht.
Innenraum der Kirche – Entwicklung und Veränderungen
Kanzeldach, durchbrochen und verziert mit geschnitztem, knorpeligem Masswerk. Photo J. Šaparauskas
Der Innenraum der Kirche wird geprägt durch die Ausschmückung der Wände und die Einrichtungen (Altäre, Kanzel und anderes); das ikonografische Programm bestimmt den Ausdruck des Ganzen. Wir wissen nur sehr wenig über die früheste, an die gotische Zeit erinnernde Ausgestaltung der Bernardinerkirche. Sicher ist, dass schon 1508 am Ende des nördlichen Seitenschiffs der St. Anna-Altar stand, der seinen angestammten Platz bis heute behalten hat. 1580 wurde die St. Anna Kapelle (wie der Bereich am Ende des Seitenschiffs damals oft genannt wurde) restauriert und mit neuen Bildern ausgeschmückt aus Mitteln des Kaunasser Advokaten Usauskis und des Kohortenführers Putvinskis. Auch aus dem Bericht über den Brand von 1603 wissen wir nicht viel mehr über das Aussehen dieses Innenraums: „... das Feuer hat alles vernichtet, ausgenommen die Sakristei und das Presbyterium, wo das Gewölbe erhalten blieb und der Hochaltar“. Bei diesem Feuer verbrannte auch der Heiligkreuz-Altar, nur der Gekreuzigte selbst blieb verschont – die Zeitgenossen sahen darin ein Wunder. Im 16. Jahrhundert wurden an der Südwand drei Beichtstühle errichtet, welche die Bernardiner Patres direkt vom Innenhof des Klosters her erreichen konnten, so dass die Beichtenden die Beichtväter nicht sahen.
Allmählich wurde die Kirche mit dem Kloster aufs Neue wieder aufgebaut „dank Zuwendungen von wohltätigen Gläubigen und der Arbeit der Klosterbrüder unter Leitung des Guardians Bernardinas Švabas“. Dass in der Kirche zwölf Altäre waren, erfahren wir aber erst aus dem Bericht von 1624 über den nächsten Brand. Über das Unglück wird besonders bildkräftig geschrieben: „ ... und später, wie als Strafe Gottes, im Jahr des Herrn 1624, um die Mittagszeit des Freitags nach der Fronleichnams-Oktav, der verehrte Pater Baltram Žukas war damals Guardian, stoben solche Funken aus dem Kamin, dass das ganze Kloster und die Kirche verbrannten. Durch diesen Brand wurde der grösste Teil der Stadt zerstört, und die Kirche so in Trümmer gelegt, dass nicht nur die Gewölbe einbrachen, sondern auch die Säulen von den Fundamenten stürzten. < ... > Möge der allmächtige Gott in Zukunft ähnliche Dinge von uns abwenden. < ... > Bei diesem Feuer verbrannten alle Altäre, von denen es sogar zwölf gab. Bezeugt ist, dass der Annen-Altar und die Altäre der Verklärung, der heiligsten Dreifaltigkeit und der allerseligsten Jungfrau Maria sowie die elegante Orgel verloren gingen.“ Die Dokumente berichten, dass viele Wohltäter mit grosszügigen Spenden beigetragen haben zum langsamen und lange dauernden Wiederaufbau der Kirche: etwa Melchioras Rusvickis „der eine Gabe für den Wiederaufbau der Orgel stiftete (...) und einen silbernen, vergoldeten Messkelch“. Als Mäzene werden auch bekannte Adlige genannt, zum Beispiel Mikalojus Veselovskis, Albertras Stanislovas Radvila, Kristupas Zaviša.
Heilige Bernardiner Märtyrer. Ende 17. Jahrhundert. Kanzelbild, auf Holz gemalt. Photo A. Švedas
Kaum waren die Wiederaufbauarbeiten vollendet, kam neues Unglück über die Brüder. Die russische Armee besetzte wie erwähnt am 8. August 1655 zum ersten Mal in der Geschichte von Kaunas die Stadt und verwüstete auch ihr Heiligtum. Im Archiv der Bernardiner ist ein wichtiges und informatives Dokument erhalten, verfasst am 5. August 1668; es bezeichnet eine klare Grenze in der inneren und äusseren Entwicklung der St. Georgskirche. Aus diesem Dokument erfahren wir, dass alles was wiederaufgebaut worden war nach der Zerstörung durch „die nichtswürdigen, brutalen Moskowiter“ (der Chor, die Gewölbe auf einer Seite, vier Säulen) erneut verloren ging beim Brand von 1668: „Das Feuer hat alles vernichtet, verbrannt und zugrunde gerichtet, aber das geschah nicht nur uns allein, sondern der Brand hat auch das Kloster der Gesellschaft Jesu verwüstet.“ Die Beschreibung des am 29. Juli 1668 ausgebrochenen Brandes schliesst so: „Das alles ist im Namen Gottes zu unserer grösseren geistlichen Vervollkommnung geschehen und gemacht.“ Damit ist offensichtlich, dass die alten Einrichtungen des Innenraums aus Gotik und Renaissance nicht erhalten bleiben konnten.
Die hölzerne Galerie des Orgelchors. 1680. Photo A. Švedas
Die Wiederaufbauarbeiten begannen 1669 – 1679 mit der Erneuerung der für das Gnadenbild der Gottesmutter bestimmten Kapelle der seligsten Jungfrau Maria; die Kapelle lag beim heutigen Kircheneingang, der Mitte des 18. Jahrhunderts an der Nordfassade errichtet wurde. Um dieselbe Zeit wurden in der Kirche acht Altäre aufgerichtet, die Kanzel und ein Orgelchor mit Galerien. (1668 – Anfang 18. Jahrhundert). Dieser Teil der schwer beschädigten, aber doch erhalten gebliebenen hölzernen Einrichtungselemente aus dem hohen Barock ist heute der Grundstock der Kircheneinrichtung. Einige davon sind einmalig, vor allem der Maria geweihte Hochaltar vom selten vorkommenden Typ, welcher als Salomonsthron bezeichnet wird; er wurde 1703 errichtet aus Mitteln des Woiwoden von Vitebsk, Andrius Krišpinas. An diesem schwarz bemalten Altar war das Schnitzwerk versilbert, überall sonst war es vergoldet. An einem einzigen Altar, jenem des hl. Franziskus von Assisi, der an der Südhälfte der Rückwand stand, war der Altaraufsatz (Retabel) nicht in Holz ausgeführt, sondern als Illusionsmalerei. Besonders originell ist die 1680 errichtete Kanzel: ihre sechseckige Brüstung, die Wand der Aufgangstreppe und die Tür sind geschmückt mit elf auf Holz gemalten Bildern; das pyramidenförmige, durchbrochene Kanzeldach ist ausgeführt als Schnitzwerk und gekrönt von der Statue Jesu Christi des Erlösers der Welt. Zu den eigentümlichsten Einrichtungsgegenständen gehören die hölzernen Galerien und Türmchen des Orgelchors, 1680 geschaffen aus Mitteln des Guardians Benediktas Rondomanskis. Die schmalen, langen, mit einer stilisierten Weinrebe dekorierten Ornamentbänder des Orgelaufbaus hängen an Pilastern, die mit dem Chor verbunden sind durch zwei hölzerne Galerien; innen sind diese bemalt mit stilisierten, reich kolorierten Blumenbouquets, die erinnern an Malereien auf litauischen Truhen. Diese subtile Malerei vom Ende des 17. Jahrhunderts ist bis in unsere Tage unangetastet geblieben.
Bild des hl. Apostels Petrus. Zweites Viertel des 18. Jahrhunderts. Fresco-secco. Photo A. Švedas
Vom vierten bis achten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts wurde in der Kirche weiter Ordnung geschaffen. Um 1739 wurden zwei neue hölzerne Altäre errichtet, die nicht erhalten geblieben sind, jene der hl. Rosa von Lima und des hl. Didacus. Zu jener Zeit haben besonders die Maler sehr aktiv gearbeitet: zum Beispiel wurden aus Mitteln (500 Goldmünzen) der frommen Dame Kučinskienė an den Wänden der Kirche Bilder der Kreuzwegstationen geschaffen. Bekannt ist auch das Datum: „Diese Kreuzwegstationen wurden wahrhaftig geschaffen um 1741“. Ebenso wurden „ganz wunderbar“ achtundzwanzig Bilder auf Leinwand geschaffen, welche heilige Märtyrer und Bekenner des Bernardinerordens zeigen. Sie hingen an den Wänden im Chor der Brüder. Im siebten Jahrzehnt wurden an der Schnittstelle von Presbyterium und Mittelschiff die Altäre von der Unbefleckten Empfängnis der seligsten Jungfrau Maria und des hl. Kreuzes errichtet. (Erhalten geblieben sind ihre Fragmente.)
Bei Untersuchungen des polychromen Innern der Kirche wurden Wandmalereien des hohen und späten Barock gefunden, die freigelegt und restauriert werden müssten; das bestätigen die gut erhaltenen und zum Teil freigelegten farbenprächtigen Bilder der Apostel Petrus und Paulus auf Pilastern im Westteil der Kirche. Darüber hinaus blieben an der Südwand des Presbyteriums Fragmente vom Wappen des Konventsgründers Stanislovas Sandzivonius erhalten und im Klosterrefektorium auch das Portrait von Sandzivonius; wenn es restauriert würde, wäre nicht nur sein Andenken verewigt, sondern auch eine greifbare Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wiedergewonnen.
Obwohl die Archivquellen keinerlei Angaben enthalten über die Künstler, die hier gearbeitet haben, darf mit Grund angenommen werden, dass es Bernardiner Brüder waren, die da lange Jahre ihre Werkstätte hatten und selber ihr Heiligtum ausschmückten.
Laima Šinkūnaitė